Warum lieben wir Geschichten?
aus dem Sonderheft zum Festival 2022
Manchmal fragt man sich: „Warum liebt man es, Geschichten zu erzählen oder zuzuhören?“ Eine Antwort: „Kinder brauchen Märchen!“. Und nicht nur junge Menschen. Bruno Bettelheim stellte diese These bereits in den fünfziger Jahren auf, um auf das intellektuelle und emotionale Stärkungsmittel der oft als zu brutal bezeichneten Märchengeschichten zu verweisen.
Neugierde
Seit Beginn der Menschheitsgeschichte werden in allen Kulturen der Welt das Fiktionale und die mythischen Weltenerzählungen als Voraussetzung menschlicher Entwicklung betont. Betrachten wir einmal an den Beispielen des diesjährigen Festivalprogramms, woraus diese Lust am Erzählen und Zuhören bestehen könnte? „Weil mir langweilig ist!“, wird oft spontan geantwortet. Aber könnte man da nicht auch im Wald Bäume zählen? Ja, es muss da noch etwas anderes geben, das uns dazu drängt. Der Erwartungshorizont mit Überraschung, Spannung und Wissbegier scheinen dabei wesentliche Kriterien und Motoren des Interesses zu sein. Spannung aktiviert unmittelbar das Interesse, während mit dem Begriff Neugierde das Verhältnis zum Text/Film umschrieben werden kann.
Zwei dieser Ebenen sind z. B. in Der Affenstern gegeben. Die Spannung entsteht unmittelbar, sobald Jonna ihre neue Mutter, einen weiblichen Gorilla, kennenlernt. Kurzfristig versteckt sie sich unter dem Bett mit ihren Freunden, aber die gespannte Erwartung, wie es wohl ohne Zwischenfall weitergehen könnte, wird das Publikum bis zum Ende in Atem halten. Wo werden die beiden, die Gorilla-Mama und Jonna, wohl am Ende des Filmes stehen? Alle geschilderten Ereignisse könnten auch mit einer Menschenmutter geschehen … Wirklich alle? Hier setzt Neugierde ein, ein unabdingbares Element des Erzählens.
Überraschung
Generationsübergreifend, ob am Lagerfeuer, im Theater, als Buch, als Film oder im Moment als Serien beliebt, werden Geschichten in vielfachen Formen und in unterschiedlichen Medien erzählt. „Beim Festival gibt es die besten Filme des Jahres“, sagen nicht nur Kinder, sondern sogar Erwachsene. Diese Güte, wie erwähnt wird, zeichnet sich dadurch aus, dass auf Augenhöhe „von uns“, vom Leben erzählt wird. Mich, uns als Publikum, kann es interessieren, wie sich die Erzählung weiterentwickelt. Man kann dahinter und darüber sehen, um die Bedeutung der Geschichte erkennen zu wollen. In beiden Fällen muss in ihr ein Minimum an Unvorhergesehenem beziehungsweise Unbestimmbarkeit eingeschrieben sein, um unser Interesse zu halten.
Das Erzählmodell bei Beste Freundinnen, Freundschaft und Liebe zwischen zwei jungen Mädchen und bei Asteroid, zwei Jungen, Land oder Stadt, ähneln einander in ihrem dualistischen Aufbau. Obwohl sie thematisch und geografisch weit auseinander zu liegen scheinen, sind beide naturalistisch in der Inszenierung und realistisch in den Motivfindungen. Die Essenz beider Filme könnte in einem Satz zusammengefasst werden, ohne Zeit und Raum zu erwähnen, in denen er angesiedelt ist. Erzählerische Windungen und Kupplungen, das abwägende Für und Wider einer Entscheidung oder die emotionale Anbindung an Geschehnisse und Charaktere würden sich in diesem einem Satz nicht finden. Erst das Unvorhergesehene, das von altersadäquater, kultureller und emotionaler Intelligenz geprägt erkannt und interpretierbar wird, weckt das Interesse an der Erzählung. Die Überraschung als Motor für die Zusehenden wird ergänzt vom Wissensdurst auf das Kommende. Sozusagen ein durch Erzählung entstandenes Rätsel, das der Lösung harrt. Die Überraschung, dass es doch anders kommt, als man gedacht hat – was geschieht als nächstes?
Attraktion und Emotion
Welche Rolle spielt die ästhetische (als sinnliches Schauen verstanden) Umsetzung, um Sensationen wie Schönheit, Lust und Freude, Spaß und Kurzweil an der angebotenen Erzählung zu finden? Diese Rolle findet neben Identifikation, vielleicht Naturalismus, durch die realistische Nähe zum Leben statt. Gleichzeitig entfernt sie sich jedoch, in dem sie in eine Art optisch akustische Vogelperspektive geht, um die vorgefundene Realität umzuformen, um sie besser empfinden und um neue sinnliche Momente erweitern zu können. – Aktuelle Seherfahrungen im Film bestehen darin, ohne Übergänge erzählt zu bekommen und trotzdem erfüllend zu verstehen. Ohne filmische Markierungen wie Schwarzabblende, Veränderung des Bildausschnitts bei gleichbleibendem Aufnahmeobjekt, oder filmisch mögliche Zeitmanipulationen, u.v.m. dem Medium Film eigene, wandern wir von einem Ort oder aus einer Zeit in den/die andere. Trotzdem können wir – und auch Jüngere sind bereits mit den Erzählkonventionen in akustisch-visuellen Medien vertraut – der Erzählung folgen. Mehr noch: Vorausgesetzt, die Rezeptionsvoraussetzungen sind gegeben, um diese filmästhetische und zusätzliche Freude bringende Gestaltungsvielfalt wertschätzen zu können, erzählt das in dieser Art vorgestellte und erschaffene Universum emotional und intellektuell Neues über die Welt und uns.
Oft trifft Unerwartetes auf einen ruhigen „Fluss“ alltäglicher Ereignisse. In Beste Freundinnen wird die naturalistische Schilderung im Ablauf der Ereignisse, in der nichts auf Ungewöhnliches schließen lässt, plötzlich durch ein Beben unterbrochen, das die Interieurs im Zimmer erschüttert. Ausgang ist das Vibrieren eines Handys, das sich auf das gesamte Zimmer ausdehnt. Ausgehend vom vertrauten Wortbild „Gefühlsbeben“ kann dieses Erbeben Nedjams optisch materiell dargestellt werden.
Sensationen zu erleben, besser gesagt Attraktionen, die ja in der Frühzeit des Kinos Träger der nicht vorhandenen Handlung waren, sind Gründe, filmische Erzählungen immer wieder von Neuem zu suchen. Im Zusammenhang mit den Festivalfilmen werden „Aktion“ oder „Attraktion“ als innere, gefühlte Sensationen verstanden: Sei es die in Einzelstationen dargestellte Sohn-Vater-Zuneigung in Kuscheln wir, die bleibende Freundschaft trotz zwischenzeitlichen Verrats Albertes in Mein Bruder, der Roboter oder jene emotionale „Sensation“, bei der vier junge Burschen trotz unterschiedlicher Interessen wie in Meine Brüder und ich zueinander ein neues Verhältnis finden. Den Begriffen „Aktion“ und „Attraktion“ eine neue, ebenso aufregende Bedeutung zuzuordnen, unterstreicht die Titelgebung des Festivalfilms Der Kämpfer. Dylan ist nicht der harte Kämpfer am Sportplatz oder auf der Straße, sondern er muss von einem Tag auf den anderen plötzlich mit sich selbst beschäftigen. In allen genannten Filmen wird uns der Weg vorgeführt, das Auf und Ab, Zweifel, Bemühungen und Aufmunterung durch Freunde oder gelungene „Aktionen“. Das sind jene Höhepunkte im Fluss der Erzählung und jene Sensationen aus dem Alltag heraus, die jede(r) von uns erlebt hat. Bestätigt auf der Leinwand versichern sie uns, in Zukunft in dieser Weise auch weiter das Leben „anzugreifen“.
Dieses Interesse, Lebenserfahrungen widergespiegelt zu sehen (und zu hören), hängt eng mit der jeweiligen altersadäquaten Komplexität in der Darstellung zusammen. Wird in Kuscheln wir, von uns ab 5 Jahren gedacht, die Intensivierung der Gefühle durch einzelne chronologisch erzählte Stationen der emotionalen Erkenntnis figuriert, gewinnt zum Beispiel in Mein ganz eigener Zirkus, von uns ab 10 Jahren gedacht, die gleiche Thematik, Kind-Vater-Beziehung, und das Durchsetzen eigener Bedürfnisse in der Erwachsenenwelt, durch szenische Umwege oder sogar durch „unzuverlässige“ Erzählstränge; das sind jene, die vorerst nichts mit der Hauptgeschichte zu tun haben, jedoch in der nachträglichen Zusammenschau zur sinnlichen Vertiefung und intellektuellen Differenzierung beitragen werden. Eine in diesem Sinne ausgereifte Erzählstrategie begegnet uns in Olivers Universum.
Transfer
Die Freude über eine gelungene Sache im Film erinnert die ZuschauerIn an einen ähnlichen Grund des Wohlseins in ihrem wirklichen Leben. Eventuell vergießen wir reale Tränen oder verbreiten reales Lachen im Kinosaal über fiktive Geschehnisse im Film. Emotionen durch Fiktion entstehen nicht dadurch, dass wir glauben, wir seien in der wirklichen Welt, sondern dadurch, dass es auch uns passieren könnte. Aus Mitleid, aus Angst, aber auch aus Wohlwollen und Freude durchleben wir diese Gefühlswelten. Zusammenfassend kommt es zu einem affektiven Transfer, Katharsis genannt. Dieser fällt umso intensiver aus, je stärker die Erinnerung an ähnlich Erlebtes das Publikum umhüllen kann.
Das erstmalige Auftreten der von uns auserkorenen Heldin/des Helden, mit der/dem man sich gerne identifiziert, ist immer ein wenig wie „unsere eigene Geburt.“ Damit werden die Selbstermächtigung und die Identifikationsfolie angesprochen, die sich ständig im Laufe der Handlung weiterentwickeln. Sei es ausgehend von Saschas Trauer in Comedy Queen, sei es im Antihelden Vitya in Sumo Kid, der vorerst einer falschen emotionalen Fährte folgt, nämlich unbedingt eine Sumo Kämpfer zu werden, um seinen für immer emotional verloren geglaubten Vater wieder zu begegnen. Durch glückliche Kindheitserinnerungen, die filmisch eindrucksvoll ungewöhnlich durch verschiedene Bewegungen im Bild und im Kontrast zur übrigen naturalistischen Erzählweise imaginiert werden, finden beide ein neues Verhältnis zueinander. Gilt diese zeitlich-räumliche und optisch-akustische inszenatorische Vernetzungsstrategie für ein älteres Kinderpublikum, finden sich für ein jüngeres mögliche Zeit und Raum dislozierende Vorstellungen, um die Zugänglichkeit zur Geschichte aufrecht zu erhalten. In Kuscheln wir werden die möglichen Glücksvorstellungen am Ende der langen Bewährungsreise in Form von Gedankenblasen (ähnlich den Sprechblasen) konkretisiert, um in einfacher und leichter nachvollziehbarer Form trotzdem Zukünftiges in der Gegenwart zu imaginieren.
„Das Objekt der Musik ist der Ton, sein Ziel ist zu gefallen, und in uns verschiedene Leidenschaften zu bewegen.“ (René Descartes, 1650). Ersetzen wir Musik und Ton durch Entsprechungen wie Film und Bild/ Ton, dann nähern wir uns möglichen Auswahlkriterien des Festivals.
Quellen: Paul Ricoeur: La métaphore vive, 1985; Nünninger Vera / Nünninger Ansgar (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier, 2002; J.-M.Schaeffer, Pourquoi la fiction? 1999; Filme der 34. Edition des Internationalen Kinderfilmfestival, Nov. 2022
Dr. Franz Grafl,
promoviert in Theater- und Politikwissenschaft, Mitarbeiter des Kinderfilmfestivals