Wien
16. – 24. November 2024
16. – 24. November 2024
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Filmfestival – Ein Fest für das Kinoerlebnis

 

Das ray Filmmagazin hat abermals eine Sonderausgabe zum Internationalen Kinderfilmfestival 2023 gestaltet.

Darin finden Sie Texte und Interviews zu den Festivalfilmen sowie alle wichtigen Termine. Die Sonderausgabe liegt zur freien Entnahme in allen Viennale- und Kinderfilmfestival-Spielstätten auf und ist auch unter abo@ray-magazin.at gratis bestellbar.

 

 

 

WAS ES NICHT ALLES GIBT AUF DIESER WELT!

 

Sich in dieser begrenzten Zeit der Festivaltage in ein Abenteuer für Kopf und Herz zu wa gen, sich einzulassen auf die Vielfalt der filmischen Erzählformen und überhaupt allumfassend auf das Andere, die Andere oder den Anderen, auf das für uns vor dem Festivalerlebnis oftmals noch Unbekannte – beispielhaft für all das steht Mina im von uns ausgewählten Film Dancing Queen (Norwegen). Sie meldet sich zu einem Tanzwettbewerb an, obwohl sie so ganz und gar nicht tanzen kann (und es bisher gar nicht wollte). Ihr Mut, der von einem neuen Jungen in ihrer Klasse geleitet ist, eröffnet ihr jedoch eine neue Welt. Dieser Wandel wird uns einfühlsam in kurzen Sequenzen, manchmal sogar rhythmisch mit dem Tanz abgestimmt, nahegebracht.
Eine neue Welt kann auch mit Filmen aus nahen Ländern erkundet werden. Mit Große Träume aus Tschechien kommen uns Kinder aus unserem Nachbarland entgegen. In Die Wächter des Deltas (Rumänien) folgen wir einer Jugendgruppe, die Wilderer aufdeckt. In klassischer, zeitlogischer Erzählweise – das heißt Szene für Szene – entwickelt sich das Geschehen nachvollziehbar und chronologisch, wird das Kriminalrätsel enthüllt. Das im Filmtitel genannte Delta ist das der Donau. Wer von uns kennt es schon?
Sehen wir uns auf der Kinoleinwand von unbekannten Menschen aus nahen oder fernen Ländern umgeben, finden wir immer wieder von Neuem filmische Erzählweisen, sei es mittels Licht, im Filmschnitt, im Einsatz von Ton oder in der Abfolge von Szenen, die wir oft noch nicht kennen, obwohl sie außerhalb unserer üblichen angebotsbeschränkten Filmrezeption existieren.

 

Dancing Queen (R: Aurora Gossé, Norwegen 2023)

 

Wie Freunde

 

Obwohl in den meisten gewählten Filmproduktionen oft ähnliche Freuden, bekannte Sorgen, schwerwiegende Pflichten und freudige Erlebnisse, oder unerwartetes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Alterswelten aus verschiedenen Kontinenten mit einem vorerst fremden kulturellen Hintergrund erzählt werden – siehe Kokon und Schmetterling (Iran) oder Sweet As (Australien) – kommt es immer wieder zu neuen Begegnungen. Sei es, wenn mir als Zuschauer ein Kindercharakter aus dem Film plötzlich, wie ein Freund, schicksalhaft vertraut erscheint, oder sei es ein filmisch gezeichnetes langes Abschiednehmen von seiner Oma wie in Mary, Tansey und die Reise in die Nacht (spielt in Irland), das einprägsam auch Vorteile eines Animationsfilms aufzeigt. Eindrucksvoll bleibt hier etwa die rasche Änderung von trauriger zu einer fröhlichen Emotion in Omas Gesicht.

 

Sweet As (R: Jub Clerc, Australien 2022)

 

Labor im Festivalreigen

 

Ein Labor für das Kennen-Lernen verschiedener filmischer Erzählformen stellt die Gattung des Kurzfilms dar (siehe „Miteinander Füreinander“, aktuelle Produktionen aus verschiedenen europäischen Ländern). Auch wenn die gezeigten Filme akribisch altersadäquat angekündigt werden, bleibt jeder einzelne auch über das Kindsein hinaus ein Gewinn. Ob Bleistiftzeichnung, Fotomontage oder großflächige Farb und Raumerfahrung zu sehen sind, alle gestalteten Geschichten bringen durch die verwendeten Formen neue und oft unbekannte Seherfahrungen hervor. Auch die Tonbegleitung oder -ergänzung zum Bild erweitert die Kinoerfahrung. Oft können die Filme erst im Kino, auf großer Leinwand und in akustischer Bestqualität ohne Störung von außen, in ihrer kreativen Umsetzung voll erfahrbar gemacht werden. Dieses differenzierte formale Erzählen öffnet die Wahrnehmung und die lustvolle Freiheit für die angebotenen Inhalte.

 

 

Buch | Theater | Film

 

Auch die einzigartige Chance, das Buch „Der geheime Garten“ zeitnah inszeniert für Theater (bis 11.11. im Theater der Jugend) und als Retrospektivenbeitrag als Film im Kino zu sehen, bietet dieses einwöchige festliche Ereignis. Sinnlich physisch präsent sind die Kinder Mary, Dickon, Colin und Martha im Theaterraum. Sie müssen sich auch bei jeder Aufführung neu erfinden, wohingegen die gleichen Charaktere im Film wie Schatten aus der Vergangenheit anmuten, die mit der Kamera einmal festgehalten und dadurch immer gleich wiederholbar werden. Das Filmmedium wird als Kristallisationspunkt genommen, von dem aus andere Erzählmedien in audiovisueller Form erkundet werden können. Theater und Film machen uns Lust auf das Lesen und auf Vertrauen zur eigenen vorgestellten Bilder-, Ton und Duftwelt, deren Beschreibung typisch – im Film zum Beispiel umgesetzt mit dem Rotkehlchen, das Mary in den Blumengarten vorausfliegt – für die literarische Vorlage ist. Beschränkend für Theater und Film gegenüber dem Lesen wirkt es, dass die Szenen so ausgewählt werden müssen, dass nach circa hundert Minuten die Erzählung nachvollziehbar und verständlich schließt. Beim Lesen dagegen darf und kann man Pausen zum Nachdenken und -fühlen einlegen; oder, weil es so schön war, nochmals intensiver lesen.

 

Der Geheime Garten (R: Agnieszka Holland, USA 1993)

 

Schicksalhaft vertraut

 

Darf es einen Festivallieblingsfilm für mich, der das Programm mit zusammenstellt, geben? Nein, eigentlich nicht. Die Summe aller Beiträge macht die Qualität aus. Aber trotzdem bleibt Juniors (Frankreich) in Erinnerung, da die beiden Protagonisten, Jordan und Patrick, einem so vertraut werden. Vielleicht spielte man (ich?) auch selbst mal Streiche, die man nur zu gerne ungeschehen machen wollte. Jordans Glatzenhaarschnitt wird für Videospendenaufrufe für einen krebskranken Jungen, eben Jordan selbst, genützt. Wie er und sein Freund aus diesem moralisch „unappetitlichen“ Streich wieder herauskommen, zeigt diese Geschichte. 

 

Juniors (R: Hugo Thomas, Frankreich 2022)

 

Ein Leben als Festspiel

 

Max Reinhardt, Gründer der Salzburger Festspiele, Theoretiker und Theaterregisseur und in der Kinofrühzeit selbst Filmautor, fasste die Wirkung von Theater und Film gültig für die Schauspielenden, aber auch für die Erwartungshaltung des Publikums, in folgender Weise zusammen: „Steck’ deine Kindheit in die Tasche und renne davon, denn das ist alles, was du hast.“ Für ihn bleibt das Leben ein Festspiel, bei dem Geschichten im Theater und Film eine große Rolle spielen. Um diesen Gedanken zu vertiefen, bieten wir auch einen Theaterworkshop an, der am Beispiel Sweet As, der von Leben-Fotografieren erzählt, die Verbindung zwischen Theater als Darstellen von Leben und Film und Fotografieren als Dokumentieren von Leben spielerisch nachempfindet. Auch Filmgespräche in der Schule werden im Anschluss an das Festival für alle jene angeboten, die aus Zeit- oder Altersgründen nicht am Workshop teilnehmen können.

 

 

Gedanken machen, Worte finden

 

Dabei können wahrnehmungs- und entwicklungspsychologische Resonanzen auf die Ton- und Bilderflut bei gegenseitigem Zuhören in Worten erfasst werden, um einem bloß zerstreuten Aufnehmen von Bild und Ton entgegenzuwirken. Auch kommen Gefühle und Emotionen nicht zu kurz, die durch das Filmerlebnis entstehen und mit Abstand von einigen Tagen wieder neu ins Bewusstsein zurückgeholt werden können. Über Gehörtes und Gesehenes zu sprechen, das fällt Kindern sowieso oft leichter als Erwachsenen. Durch alle Altersgruppen hindurch ist jedoch jene Form von Erleichterung zu bemerken, die es ermöglicht, das medial Erlebte offener, freier und unbeschwerter im Gedächtnis zu bewahren.

 

 

Dr. Franz Grafl,

promoviert in Theater- und Politikwissenschaft, Mitarbeiter des Kinderfilmfestivals