Wien
16. – 24. November 2024
16. – 24. November 2024
CINE CENTER  |  CINEMAGIC  |  VOTIV KINO

Erzählen und Erzählung

 

aus dem Sonderheft zum Festival

 

aus dem Sonderheft zum Festival 2019

 

 

 

„HÄTTI, TÄTI, WARI” … 

…. ist sicherlich nicht die Lebensphilosophie jener Kinder, die im Mittelpunkt der aktuellen Filmauswahl aus der weltweiten Produktion stehen. Nach gefährlichen oder emotional schmerzhaften Umwegen nehmen sie ihr Leben manchmal mit Hilfe, aber meistens ohne Unterstützung der Erwachsenen, in ihre eigenen Hände.

 

Des filmischen Erzählens Vielfalt  wird in diesem Jahr besonders betont. Neben den gewohnten Spielfilmen werden ein Dokumentarfilm, ein Kurzfilmprogramm, liebevoll auf ein junges Alterssegment abgestimmtes Kurzfilmprogramm und ein filmisch-optisches Gedicht,  lyrisch-literarisch, tänzerisch-theatrale Erzählvariationen und Paraphrasen über das Gefühl des Begehrens, in Daniel,  angeboten. Mutig von den AutorInnen, aber auch von Daniel und von uns, den ZuseherInnen, sich darauf einzulassen!

Ungewollt mutiger müssen auch die zu uns geflüchteten Yalda, Mohammed oder Aicha sein. Den Verlust an deren Lebensqualität signalisiert bereits der Titel Früher mochte ich das Meer. Mit diesem dokumentarischen Film für Kinder über Kinder wird gezeigt, wie eine  Folge von aufeinander abgestimmten Einstellungen und der dadurch entstehende Rhythmus

eine respekt- und würdevolle Nähe zu den Kindern unpathetisch empatisch entstehen lassen. 

 

Früher mochte ich das Meer / Je n’aime plus la mer (R: Idriss Gabel, Belgien 2018)

 

„Welche Farben haben unsere Gefühle,“ fragte sich nicht nur ein Filmkünstler wie Michelangelo Antonioni, sondern unter diesem Blickpunkt können auch die diesjährigen Beiträge gesehen werden. Die animierte personenbezogene Farbigkeit in Jakob, Mimmi und die sprechenden Hunde vor dem bräunlich grauen Hintergrund gibt den Hauptcharakteren zusätzliche emotionale Tiefe, die jenseits des Sprechens für uns nachvollziehbar werden kann. Ebenso stellen in Die Rettung des Eulenwaldes die von Licht überstrahlten farblich lebendigen Bilder im Kontrast zum vorherrschenden Weiß des Schnees eine unwirkliche Atmosphäre her, die auf das utopisch Märchenhafte der Erzählung verweist. „Farbe besitzt die Macht und die Kapazität, die Erzählung und deren Bedeutung zu unterwandern“, meint die Psychoanalytikerin und Literatin Julia Kristeva. Mit dem überlegten Einsatz von Farbgebung und Licht kann der erzählerische Zugang über die vordergründige Handlung hinaus erweitert werden.

 

Jakob, Mimmi und die sprechenden Hunde / Jēkabs, Mimmi un runājošie suņi
(R: Edmunds Jansons, Lettland/Polen 2018)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fast scheint es, dass Film aufgrund seiner vielfältigen Anregung der Sinne besonders geeignet ist, Fantasie, Träume – nicht nur von Kindern – und damit verbundene utopische Weltbilder einprägsam in Szene setzen zu können. Die Erzählungen kommen oft aus Gegenden – Chuskit zum Beispiel aus Ladakh, Indien – von denen wir bis jetzt nicht einmal wussten, dass es diese Regionen und diese menschlichen Schicksale gibt. Warum lieben wir es so sehr, Erzählungen anzusehen oder ihnen zuzuhören? Neben dem Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung suchen wir immer wieder auch Geschichten, in denen das Leben vorgezeigt wird und mit denen positives und negatives Verhalten folgenlos nachgefühlt werden kann: Kennenzulernen, wie andere das Leben meistern. Ist das Erzählen, dessen Faszination noch immer ungebrochen anhält, nicht doch eine der ursprünglichsten Kulturtechnik? Sie wird zwar nicht nur von Menschen angewandt, so fair sollten wir der Natur und den Tieren gegenüber sein, aber die Vielfalt menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten ermöglicht es in besonderer Weise, differenzierte Sachverhalte und komplizierte Gefühlswelten auszutauschen. Ähnlich dem Lesen kann Film wichtige menschliche Schicksalsfragen in einer Form verhandeln, die umfassender als Buchstaben Ideen und Gefühle in Bewegung bringen kann.

Eingebettet in eine Umgebung, die von altgewohnten Sitten geprägt ist, setzt sich Rasul in Loknat – Stottern erfinderisch in den Kopf, seiner Schwester und der Dorfgemeinschaft eine Bibliothek zu organisieren. Schritt für Schritt in unaufgeregten Bildern und versöhnlichen Szenen zwischen den Generationen setzt er seinen Plan um. Rasul wie auch Lucia in Mein größter Weihnachtswunsch halten nichts von „Hätti, Täti, Wari“, sondern verfolgen, manchmal auch mit Augenzwinkern uns, den ZuschauerInnen, gegenüber, ihr angestrebtes Ziel. 

 

IRIB Media Trade
Loknat – Stottern (R: Mohammadreza Haji Gholami, Iran 2018)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Geflüchtete Kinder und Klima- und Umweltschutz fanden überraschend rasch Eingang in die aktuelle Kinderfilmweltproduktion. Aufregend im Kino zu erleben, wie diese Themen in unterschiedlicher Weise für altersadäquate Wahrnehmungserfahrungen erzählt werden, aber auch, wie ähnliche Themen in verschiedenen Filmgattungen in Szene gesetzt werden.  Neben Früher mochte ich das Meer zum Beispiel auch Binti in Form einer geheimnisvollen und metaphernreichen Filmgeschichte. Aber auch der Widerstand gegen Bausünden und für Umweltschutz in Form des märchenhaften Films Die Rettung des Eulenwaldes oder in Jakob, Mimmi und die sprechenden Hunde als gezeichnetes Abenteuer. Werden diese Titel vorher im Bezug zur Farbendramaturgie genannt, werden sie  jetzt hinsichtlich ihrer thematischen Aspekte zitiert. Noch viel mehr Bezüge und Vergleiche zwischen den genannten und den übrigen Festivalbeiträgen können hergestellt werden. Erkennbar werden Synergien und Netze, die aus verschiedenen Erdteilen und Ländern kommen, die aber ähnliche Erzählungen mit international und generationsübergreifend verstehbaren formalen Mitteln anbieten. Nicht nur in der Stummfilmzeit, sondern heute durch das Vermittlungsmedium Internet bleibt der Film international. Für mich, für den die formale Gestaltung auch Teil des Inhalts ist, bleibt jedoch die Frage, ob nicht mit Hilfe von Internet  zwar viel Gesehen, aber wenig erkannt wird, und ob das Gemeinsame des Kinoerlebnisses nicht zusätzliche Sinneseindrücke hinzufügen kann, die zu einem neuen Teil des Filmes werden. 

Wie können Gefühle und Verhalten inszeniert werden, so dass sie von der Leinwand herabkommend für uns tatsächlich als wahrhaftig angenommen werden? Kann ich das Glück, sei es als jüngerer oder älterer Mensch, in Die Rettung des Eulenwaldes nachempfinden, das Begehren in Daniel, die Einsamkeit in Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, das Gefühle der Liebe in Psychobitch oder die Hilfsbereitschaft und das Verständnis gegenüber der Großmutter in Romys Salon als erklärbar, aber auch vielleicht unter neuen überraschenden Aspekten als erkennbar fühlen?

 

Mein größter Weihnachtswunsch / Julemandens datter
(R: Christian Dyekjær, Dänemark 2018)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Farbe und Licht sind nur zwei von vielen Möglichkeiten, über die Literatur hinausgehend, das Erzählen im Film zu erweitern. Sie, als Publikum, erhalten das Privileg, bereits in aller Welt preisgekrönte Filme der letzten zwölf Monate in konzentrierter Form sehen zu können. Preise sind natürlich nur relativ aussagekräftig, da diese von vielen organisatorischen Unabwägbarkeiten, aber auch von kultureller Erfahrung, Praxis und vom ästhetischen Bewusstsein abhängen. Kreieren Sie selbst ihre eigenen Erinnerungen und Aufregungen durch die angebotenen Bild-/ Tonkompositionen während und nach der Festivalzeit!

 

 

Dr. Franz Grafl,

Theater- und Politikwissenschafter, Mitarbeiter des Kinderfilmfestivals.