Wien
16. – 24. November 2024
16. – 24. November 2024
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Die Geschichtenerzählerin

aus dem Sonderheft zum Festival

 

aus dem Sonderheft zum Festival 2021

 

 

 

 
Im April dieses Jahres ist Nadja Seelich, aus Prag gebürtige Regisseurin und Drehbuchautorin, im Alter von 74 Jahren verstorben. Das Kinderfilmfestival zeigt ihr zu Ehren „Ferien mit Silvester“. Eine Erinnerung.

 

 

 

Geschichten erzählen und hören, Märchen lesen“, soll Albert Einstein auf die Frage geantwortet haben, wie man so gescheit werden kann wie er.
Eine Glaskugel in der Hand, vor sich allzu gläubige Zuhörende, die Nadja alles abnehmen, was sie über deren zukünftiges Schicksal spontan erzählt. So lerne ich Nadja Seelich kennen. Nur als durchschaubare Darstellerin einer Schicksalsdeuterin zur atmosphärischen Untermalung von uns angedacht, wird sie für viele zur überzeugenden Wahrsagerin im Rahmen einer Veranstaltungsreihe, die den Filmen Hans Mosers und dessen Zeit kritisch durch Musik, Theater, Literatur und eben durch solche Installationen auf die Spur kommen will.
Mit ihren mehr als zwanzig Drehbüchern, nicht alle leider als Film realisiert, und sechs Regiearbeiten wird sie zu einer der produktivsten österreichischen Filmautorinnen. Zwar nicht vergleichbar mit einem Jean-Claude Carrière in Frankreich oder mit Tonino Guerra in Italien, sind diese doch Männer in eine männlich dominierte Branche und in eine vitale und traditionsreiche Filmlandschaft eingebettet, schreibt Nadja Seelich sich trotzdem kontinuierlich als Autorin von unterschiedlichen Gattungen und Genres im deutschsprachigen Filmschaffen ein.

Ihr Lieblingspublikum sind jedoch die Kinder. Sie weckt mit ihren Filmen immer wieder jene „Phantome“ (Erich von Stroheim) in uns, die durch die filmische Erzählform zusammen mit der Atmosphäre im Kinosaal besonders lebendig werden. Gerne erschließe ich mir einen Film, oder allgemein wie eine Autorin denkt und fühlt, im ersten Nachdenken über den jeweiligen Titel, der ja wohl überlegt (außer bei fremdsprachigen, die deutsche, oft verwirrende Titel erhalten!) gesetzt wird. Nadjas Filmtitel wie Jonathana und die Hexe, 1984, Ferien mit Silvester, 1990, Lisa und die Säbelzahntiger, 1993, Ein Sommer mit den Burggespenstern, 2001, oder Mozart in China, 2008, bestehen aus realen Namen und bekannten Ereignissen. Gleichzeitig wird ihnen Nicht-Reales hinzugefügt. Aus dieser Spannung heraus wird die jeweilige Geschichte entwickelt. Selbst der Titel Mozart in China gibt uns Rätsel auf. Die Filme treffen die Herzen des internationalen Publikums, wie es die zahlreichen Festivalpreise und Auslandsverkäufe unterstreichen.

 

Nadjas mystisch-metaphorisch Weltordnung wird auch bei ihren Filmen für ein erwachsenes Publikum sichtbar. Mit Sie saß im Glashaus und warf mit Steinen (1992) geht Nadja zurück nach Prag, sucht die Bohemiens der Stadt auf, die sich um Jana Cerná, die Tochter von Franz Kafka, geschart haben. Aus der Dokumentation entsteht ein vitales, lustvolles, gegenwärtiges Sittenbild, wobei Sitte bei diesem Panorama nicht vom Wort Moral zu kommen scheint.
Es ist ihr wohlwollender Sarkasmus oder manchmal ihr mitfühlender Zynismus, der oft in leise Ironie übergeht, die selbst böse Personen oder schier ausweglose Situationen leicht und versöhnlich erscheinen lassen. Diesen erzählerischen Grundgestus nützt Nadja, um schließlich die Welt und vor allem die Menschen doch zu umarmen. Aktuell für mich das beste Beispiel für dieses Menschbild Nadjas sind die lakonisch spitzfindig spitzzüngigen Antworten Katharinas in Ferien mit Silvester.

Mit Traurigkeit und Hoffnung sieht Nadja deshalb in Wenn die Liebe flöten geht (2000) auch auf Liebende, die auseinander gehen. An Wegkreuzungen, auf Flughäfen oder auf einem einsamen Bahngelände werden sie zu ihrer Trauer und Hoffnungslosigkeit befragt. Wie die Minuten und Stunden dieses Auseinandergehens von ihnen gefühlt wurden. Es wäre aber nicht Nadja, hätte sie ein Jahr später dieselben Personen nicht noch einmal – nun über ihre Zukunft – befragt. Trotzdem locker und humorvoll zu bleiben, das ist auch das Bestreben Nadjas gewesen, im eigenen Leben, im Denken an Andere oder mit ihren fiktionalen imaginierten Personen. Uns erinnert Nadja immer wieder aufs Neue an wesentliche Dinge des Lebens: an Kindheit, an Widerstand, oder an Liebe.

 

Viele Filme macht sie gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Bernd Neuburger, wie Mozart in China, 2008. Ein Salzburger Junge besucht die Familie seines chinesischen Freundes mit der Marionettenpuppe Mozart, die sich in den Koffer geschwindelt hat. Marionettentheater aus Salzburg trifft chinesisches Schattentheater. Das rein optisch faszinierende, auch für einen Film immer gewinnbringende Schattenspiel wird von dem mehr und mehr in die Schattenprinzessin verliebten Mozart am Klavier begleitet. Behutsam und filmerzählerisch aufregend werden Kinder mit den Unterschieden zweier Kulturen, die doch vieles gemeinsam haben, spielerisch vertraut gemacht.
Ein Tonband aus dem Jahre 1948 wird zur Grundlage für den Rhythmus der Bilder, der die Dramaturgie des für Erwachsene gedachten Dokumentarfilms Theresienstadt sieht aus wie ein Curort (1997) bestimmt. Manchmal hört man die Stimme Nadjas, wenn sie Briefe ihrer Großmutter Josefa Stibitzova vorliest. Verdichtend überlappen sich fast unbemerkt die beiden Frauenschicksale.

 

Auch Katharina aus Die Ferien mit Silvester und eben Josefa, ein Mädchen mit sieben Jahren und eine 70-jährige Frau, erstarken durch ihre Erlebnisse: die eine aus dem kindlichen Weltbegreifen, die andere als KZ-Insassin, die durch Zufall überlebt. Beiden gemeinsam ist jedoch der Wille zu Leben. Kann es uns überraschen, dass Nadja Seelich die Enkelin dieser starken Frau ist, die nie wieder Deutsch sprechen wollte? Eine Fortsetzung in der dokumentarischen Erzähllogik findet sich in ihrem Film Gedächtnis der Frauen (2001). Hier können wir vier Frauen aus Slowenien, Deutschland, Tschechien und Österreich, die den Widerstand und das KZ überlebt haben, zuhören, während sie zu ihrem jetzigen Leben einfühlsam befragt werden.

 

Nadja war auch immer eine begeisterte und treue Gästin während des Internationalen Kinderfilmfestivals In Wien. Ihre Einschätzungen und wohlüberlegten Einwände waren immer interessante Anknüpfungspunkte für die qualitative Weiterentwicklung des Programms. Ich wäre nicht überrascht, säße sie bei den nächsten Vorführungen von einem ihrer Filme, in diesem Jahr Ferien mit Silvester, in der vorletzten Reihe rechts. Sie hörte sich immer gerne die Reaktionen ihres liebsten Publikums, der Kinder, im dunklen Kinosaal an. „Das Kino“, sagte André Bazin, Filmkritiker, „fügt unserem Blick eine Welt hinzu, die unsere Wünsche erweitert.“

 

 

 

Dr. Franz Grafl,

Theater- und Politikwissenschafter, Mitarbeiter des Kinderfilmfestivals.